Wolfgang
IM AUFNAHME-
ZUSTAND
Es gibt immer tausend Gründe, etwas nicht zu tun. Jetzt gab es keine Entschuldigungen mehr. Zumal ich wirklich keine Lust hatte, rauszurennen und ‚Corona zu fotografieren‘. Das habe ich anderen überlassen. Jetzt oder nie, dachte ich, und wühlte mich in mein Archiv.
Ich bin nicht nur freischaffender Fotokünstler, sondern auch Galerist, Kritiker, Juror und Präsidiumsmitglied der Deutschen Fotografischen Akademie (DFA). Ich reflektiere, schreibe und diskutiere über Fotografie, unterrichte und stelle regelmäßig aus. Manchmal ist es kompliziert, das in Einklang zu bringen, denn ich bin häufig unterwegs.
Die Pandemie sorgte dafür, dass ich zuhause blieb. Viele Kulturveranstaltungen wurden abgesagt, meine Workshops auch. Ich musste in die digitalen Medien umziehen und war froh, dass ich aus meinem großen Netzwerk wertvolle Anregungen bekommen und zügig gelernt habe. Über die Kollaborationsplattform Miro zum Beispiel hat sich mir eine ganz neue Welt eröffnet und ich staunte nicht schlecht darüber, dass diese Form der Begegnung sogar effektiver sein kann als Live-Meetings. Selbst die Portfolio Walks der DFA fanden erfolgreich über ZOOM statt und die virtuellen Jurysitzungen waren mit Abstand die intensivsten, die ich in zwanzig Jahren Mitgliedschaft erlebt habe. Meine Seminare konnten also weiterlaufen. Das sicherte meine wirtschaftliche Unabhängigkeit und ermöglichte mir meinen intensiven Trip in die Wunderkammern meiner frühen fotografischen Abenteuer.
Ungezählte Farbnegative waren im Rahmen meines Stipendiums für das Projekt Menschenbilder - Bildermenschen zum Thema Massenkultur entstanden. Gleich nach meinem Studium sind davon dreißig Exponate in mehreren Einzelausstellungen zu sehen gewesen. Diese und Myriaden anderer aus den Achtzigern und frühen Neunzigern entdeckte ich jetzt neu. Das hätte ich ohne Lockdown niemals angepackt! Monatelang habe ich bis in die Morgenstunden Kontaktbögen gesichtet und über tausend Scans angefertigt. Ein bisschen spooky war es schon, dass ich mich in Zeiten der sozialen Isolation mit Bildern von Großveranstaltungen beschäftigte.
Ich war frei, war quasi im Sabbatical. Ruhig und konzentriert konnte ich in die Vergangenheit eintauchen und dem Sound der Aufnahmen lauschen. Mit den Erfahrungen der letzten vierzig Jahre und den heutigen Methoden des Edits habe ich sie neu zusammengefügt. Von den frühen Ausstellungsbildern ist nur ein Teil übrig geblieben, andere sind jetzt in den Vordergrund getreten. Keines hat an Aktualität verloren. Und sie alle dokumentieren, dass ich mir treu geblieben bin. Schon damals war da dieses Wechselspiel zwischen intuitivem und konzeptionellem Handeln, das Flüchtige, die Kraft der kleinen Gesten und Augenblicke, die man nur in der Anonymität der Masse finden und festhalten kann.
Eine Auswahl meiner Entdeckungen habe ich auf Instagram gepostet und beobachtet, wie die Reaktionen ausfielen. Was für ein grandioses Experiment! Ich erhielt Rückmeldungen aus dem In- und Ausland und habe erkannt, dass das Projekt, das inzwischen den Namen CROWDS trägt, einen Nerv trifft. Das hat mich zusätzlich angespornt und ich bekam fast ein wenig Sorge, die Ausgangssperre könnte zu Ende gehen, bevor mein Buch fertig wird.
Es schlummern noch weitere Arbeiten im Bestand und ich habe eine Menge Pläne und Ideen. Manchmal denke ich, Lockdown ist bloß ein anderes Wort für Muße.
29. November 2021

Bei Wolfgang Zurborn (65) aus Köln dreht sich seit über 40 Jahren alles um die Fotografie.