Tobias
FAKTEN UND FIKTIONEN
Genauso schnell wie die Pandemie breiteten sich die Pandemie-Mythen aus. Aber auch zahlreiche Menschen aus dem Umfeld von Verschwörungsgläubigen meldeten sich zu Wort, die nicht mehr wussten, wie sie mit ihrem Partner, ihrer Mutter oder ihrem Kollegen umgehen sollten. Ich war damals in der Islamismusprävention tätig und beobachtete die Entwicklungen mit Sorge. Den Onkel, der seine Nachbarn für Aliens hält, konnte man vielleicht noch als Sonderling belächeln. Die Maßnahmen zur Coronabekämpfung aber dominierten unseren Alltag rund um die Uhr. Die Gefahr einer Polarisierung und die Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft war zu befürchten.
Aus unserer Arbeit in der Rechtsextremismus-Prävention bzw. gegen den religiös begründeten Extremismus wussten wir, dass frühzeitiges Handeln essenziell ist. Vor allem über das soziale Umfeld, also dort, wo eine stabile Vertrauensbasis da ist. Mit einem eigens entwickelten Beratungsansatz machten wir uns auf die Suche nach Geldgebern. Ein Spießrutenlaufen durch die Institutionen war das! Schließlich übernahm das Land Berlin die Finanzierung. Wir fanden Räumlichkeiten in Kreuzberg und gründeten im Januar 2021 die Beratungsstelle Veritas. Nach 14 Jahren kehrte ich damit zurück in meine Heimatstadt.
Der Zulauf war überwältigend. Im ersten Jahr erreichten uns über 600 Anfragen aus ganz Deutschland. Die Warteliste ist voll, die Wartezeit beträgt bis zu fünf Monaten. Unsere Klienten sind vor allem Angehörige. Sie berichten von Beziehungsstörungen, Suiziddrohungen, Auswanderungsplänen etc. Von uns erhoffen sie sich Ratschläge, wie sie besser mit der Situation klarkommen und wieder Zugang zur geliebten Person finden können.
Einen Masterplan gibt es natürlich nicht, denn jeder Fall ist unterschiedlich. Aber aus Erfahrung und zahlreichen Studien wissen wir, dass Veränderungsprozesse nicht über Faktendebatten in Gang gebracht werden. Wir verändern uns nicht primär aufgrund von rationaler Einsicht, sondern durch emotionale Anstöße. Derzeit haben wir es vor allem mit Gefühlen der Angst und der Ohnmacht zu tun. Betroffene befürchten, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Wenn die Unübersichtlichkeit zu groß wird, suchen diese Leute nach Narrativen, die ihnen Sicherheit geben. Die Annahme, dass im Hintergrund geheime Mächte agieren, die sich auf Kosten anderer bereichern, wird da zur wertvollen Erklärungshilfe. Gegen Menschen kann man den Kampf aufnehmen, gegen den Zufall, der ein Virus hervorbringt, nicht.
Inzwischen erreichen uns auch Anliegen von Schulen, aus dem Jugendhilfebereich oder von der Polizei. Dazu kommen zahllose E-Mails und Medienanfragen, die wir als vierköpfiges Team auf zwei Personalstellen unmöglich bewältigen können. Sollte es zur Impfpflicht kommen, befürchten wir eine Zuspitzung der Lage. Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass aus dem Bereich des Verschwörungsglaubens die nächste weltweite terroristische Bedrohung entstehen könnte. Schon jetzt sind Übergriffe auf Impfstationen oder Arztpraxen zu verzeichnen, aber auch Fälle von Eigen-, Fremd- oder Kindeswohlgefährdung. Die Politik sollte das Thema sehr ernst nehmen und entsprechende Mittel bereitstellen. Wo Angst grassiert, wirkt es nicht deeskalierend, einfach die Polizeipräsenz zu erhöhen.
Ich werde oft gefragt, was ich nach der Pandemie anstelle. Darüber mache ich mir wenig Sorgen. Das Virus wird uns noch eine Weile begleiten. Und am Horizont ist schon das neue große Thema erkennbar: die Leugnung der Klimakrise. Von Langeweile also keine Spur!
13. Januar 2022

Tobias (35) leitet die Berliner Beratungsstelle Veritas für Betroffene von Verschwörungserzählungen. Deutschlandweit ist das die erste Einrichtung dieser Art.