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Melanie

STREET LIFE

Ich lebe seit vier Jahren auf der Straße. Von der Hand in den Mund, also vom Schnorren und vom Flaschensammeln. Mein Wohnzimmer ist vor dem Aldi in der Fußgängerzone, mein Schlafzimmer war bis vor kurzem eine U-Bahnstation. Nicht einmal Hartz IV habe ich gekriegt, da Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sich nicht einigen konnten, wer für mich zuständig ist.

Wenn du obdachlos bist, hast du direkt einen Stempel auf der Stirn und giltst als unsauber, suchtkrank und gefährlich. Mit diesen Vorurteilen möchte ich aufräumen. Deshalb habe ich vor einem halben Jahr das mit den ‚Stadtstreifen' angefangen. Das sind Führungen durch den Alltag der Nichtsesshaften. Jeden Sonntag zeige ich Interessierten in eineinhalbstündigen Rundgängen, wie wir leben, wo wir essen, wo wir uns waschen, wo wir schlafen. Die Idee dazu kam von zwei Medizinstudenten, die das zusammen mit der Aids-Hilfe organisieren. In dieser Rolle war ich sogar schon in der Zeitung und das Radio hat über uns berichtet. So habe ich dann auch ein kleines Zimmer bekommen, wo mein Mann, mein Hund Filou und ich seit acht Wochen wohnen.

In meinen Augen hatte Corona gute und schlechte Seiten. Gut war, dass mein Antrag auf Hartz IV endlich genehmigt wurde. Ansonsten waren es harte Zeiten für uns Wohnsitzlose. Die Innenstadt war leergefegt, weil ja alle Geschäfte zu hatten. Auch die Bahnhofsmission war geschlossen und nirgends konnten oder sollten wir uns aufhalten. Unsere Mittagsmahlzeit haben wir zwar an den gewohnten Plätzen abgeholt, aber dort durften wir nicht mehr zum Essen bleiben. So standen wir mit Schüssel und  Besteck in der Hand vor der Tür und wussten nicht, wohin. Auch das mit dem Versammlungsverbot war am Anfang ziemlich chaotisch. Schon wenn wir zu zweit oder zu dritt zusammenstanden, sind die Leute vom Ordnungsamt ziemlich grob mit uns umgegangen und haben sogar Strafen verhängt. Ich glaube, die hatten genauso viel Angst wie wir.

Die Hilfsbereitschaft der Privat- und Geschäftsleute ist dagegen groß gewesen. Vor allem im ersten Lockdown wurden uns oft Tüten mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln gebracht. Aber je länger sich das hinzog, desto weniger Unterstützung gab es. Ich habe Glück, dass ich tagsüber vor dem Aldi sitze. Da kommt immer jemand vorbei.

 

Es gab Spannungen, doch die meisten Obdachlosen waren solidarisch. Ich habe von keinem Fall gehört, dass jemand von uns infiziert war. Ich weiß nicht warum. Vielleicht sind wir alle schon so abgehärtet, dass wir unverwundbar sind. In der Lockdownzeit waren ja die Schulen zu, da durften wir sogar während der Sommersaison in der U-Bahn übernachten. Damit ist sonst am 1. April Schluss.

Geimpft wurden wir auch. Und ich habe sogar schon meine Booster-Auffrischung erhalten. Das ist wichtig. Ich komme am Tag mit so vielen Leuten in Berührung, da muss ich mich und andere schützen.

Ich habe ein gutes Leben, mir fehlt nichts. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mich über mehr Mitmenschlichkeit freuen. So wie zu Beginn der Pandemie, als die Einwohner und Passanten uns plötzlich wahrgenommen und ihre Hilfe angeboten haben.

13. November 2021

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Melanie (43) hat vier Jahre auf der Straße gelebt und schätzte die neue Hilfsbereitschaft, die das Virus zeitweilig unter die Menschen gebracht hatte.

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