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Martina

ÄRMEL HOCH!

Ich führe eine Diabetologie- und Hausarztpraxis mit 45 Mitarbeiterinnen und rund 7.000 Patient:innen pro Quartal. Als alles losging, war uns sofort klar, dass Schichtbetrieb angesagt ist. Denn im Falle einer Infektion wären wir kollektiv in Quarantäne gegangen und hätten schließen müssen. Also teilten wir die Belegschaft in zwei Gruppen, die abwechselnd eine Woche Dienst hatten und eine Woche nicht. Noch nie habe ich so wenig gearbeitet und es war wunderbar, mit meinem Mann wandern zu gehen oder für die Enkelkinder zu stricken. Es gab ohnehin nicht viel zu tun, die Patienten waren ängstlich und blieben fern. Damals ahnte ich nicht, dass meine Arbeitszeit schon bald auf weit über 60 Wochenstunden ansteigen würde.

 

Bereits im Mai haben wir den Normalbetrieb wieder aufgenommen. Mein Credo ist, dass wir uns um ALLE Menschen kümmern müssen. Auch andere Erkrankungen mit teils schwerwiegenden Folgen dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Also haben wir weitergemacht - mit Masken, Abstand und gesundem Pragmatismus. Und wir begannen zu testen. In Schulen und Kindergärten, aber auch für andere Kollegen, die uns ihre Patienten schickten, weil sie Sorgen hatten, wenn Infektiöse ihre Praxis betraten. Ich richtete eine räumlich isolierte Fieberambulanz ein, wo wir die Abstriche machten, aber auch Covid-Patienten betreuten, denn das Gesundheitsamt war schon damals häufig überfordert.

 

Dann kam der Impfstoff und ich wurde gefragt, ob ich für den linksrheinischen Teil des Rhein-Sieg-Kreises die Koordination für die mobilen Impfeinsätze übernehmen wolle. Ich wollte - und bildete rasch ein Team, das ab dem 30. Dezember 2020 so gut wie alle Heime und Behindertenwerkstätten abklapperte. An jedem Tag der Woche sind wir losgezogen. Ich hielt Vorträge darüber, wie man BioNTech aufbereitet und was organisatorisch zu beachten ist, und war am Wochenende leitende Ärztin im Kreis-Impfzentrum. Nachts kämpfte ich mit Albträumen, jemanden gespritzt zu haben, der drei Tage später womöglich an einer Hirnvenen-Thrombose verstirbt. Und tagsüber musste ich die Anfeindungen und Drohbriefe der Querdenker und der Impfdrängler ertragen. Erst als im Sommer 2021 ausreichend Vakzin zur Verfügung stand, entspannte sich die Lage.

 

Wir haben inzwischen rund 20.000 Menschen immunisiert und vielen anderen geholfen. Bis heute hat sich keiner von uns infiziert, aber wir haben alle ordentlich Federn gelassen. Das wäre nicht passiert, hätte die Politik früher die Kurve gekriegt, anstatt Wahlkampf zu machen. Denn im Sommer war klar erkennbar, dass Mutationen kommen würden. Wieso haben wir unsere Kinder so früh ohne Maske zur Schule geschickt? Warum wurden Veranstaltungen nicht viel früher mit der 2G-Regel belegt? Stattdessen haben wir jeden Tag Impfstoff weggeworfen und müssen uns erneut durch einen harten Winter kämpfen, in dem wir hoffentlich bald die 85%-Quote erreichen. Im Frühjahr werden wir beginnen, mit Mutationskomponente zu boostern. Dann beginnt die Routine.

 

Es war eine wahnsinnig anstrengende Zeit, aber ich würde alles genauso wieder tun. Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen. In 20 Jahren werde ich hoffentlich meinen dann erwachsenen Enkeln sagen: Ich war eine Frau der ersten Stunde. Mit Leib und Seele.

14. Dezember 2021

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Martina (59) ist Internistin, betreibt eine große Praxis in Rheinbach und war im Kampf gegen das Virus von Beginn an im Dauereinsatz.

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