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Leo

SCHICHTWECHSEL

Als Pflegekraft in einer geriatrischen Wohneinrichtung hat mich Covid-19 mit voller Wucht getroffen, näher dran konnte man kaum sein. Allein die Hygienevorkehrungen für uns Pflegende waren extrem strapaziös. Mit Schutzkittel, Haarhaube, Face Shield, Handschuhen und all dem Plastikzeug am Leib waren wir nach der ersten Bewegung klatschnass geschwitzt. Darin steckten wir jeden Tag 7,7 Stunden, das ist die Dauer der regulären Schicht. Als im Dezember 2020 in unserer Einrichtung die Zahl der Infizierten zunahm, wurden auch die Anforderungen höher. Jetzt gab es statt drei nur noch zwei Schichten, und das bei akutem Personalmangel. Es sollten so wenige Menschen wie möglich miteinander in Berührung kommen, deshalb waren auch Aushilfskräfte nicht mehr zugelassen. 12-Stunden-Schichten wurden zur Normalität.

 

Trotz äußerster Vorsicht habe ich mich im Januar ebenfalls angesteckt. Meine erste Impfung hatte ich hinter mir, die Symptome waren dennoch heftig. Obwohl ich mich noch schlapp fühlte, ging ich nach drei Wochen wieder arbeiten. Aber die psychische Belastung wuchs. Um mich herum sah ich jeden Tag Menschen sterben. Und parallel registrierte ich, wie unsere Gesellschaft nervöser wurde, wie sich Lager bildeten, wie Angst und Intoleranz zunahmen. Gleichzeitig vermisste ich soziale Kontakte und Kulturveranstaltungen als Ablenkung bzw. Ausgleich für die enorm hohe Arbeitsbelastung. Ich fühlte mich gefangen.

 

Der Zusammenbruch kam langsam, aber unaufhaltsam. Eines Tages wusste ich dann: mein Leben konnte so nicht weitergehen. Alles seit Jahren Angestaute wurde an die Oberfläche geschleudert. Denn im Grunde war ich schon lange vor der staatlich verordneten Isolation in mir selbst eingesperrt - als Frau in einem Männerkörper. Ewig hatte ich dagegen angekämpft, habe Kampfsport getrieben und mir Jobs in betont männlich geprägten Welten wie z.B. der US-Army gesucht. Ich fühlte mich in der Gothic-Szene zuhause. Dort, wo die Grenzen zwischen den Geschlechtern fließend sind, wo sowohl Männer als auch Frauen sich nach Belieben kleiden und schminken. Aber auch diese Welt blieb mir in Zeiten des Lockdowns verschlossen. Da lief das Fass über. Plötzlich hatte ich keine Wahl mehr. Ich musste und wollte Verantwortung übernehmen - mir selbst gegenüber, aber auch gegenüber anderen. Ich outete mich.

 

Seit einem halben Jahr befinde ich mich im Prozess der Transition. Meine Familie und meine Kollegen begleiten mich dabei mit viel Verständnis. Ich bin den Weg durch die Instanzen gegangen, habe sämtliche erforderlichen Gutachten eingeholt und vor drei Monaten meine Transgender-Reise begonnen. Die Hormone machen mich emotionaler, aber auch lebendiger und wacher. Ich brauche weniger Schlaf und gesundheitlich geht es mir besser denn je. Die Migräneattacken, die mich seit meinem 18. Lebensjahr häufig heimsuchten, sind verschwunden. Zugleich habe ich meine kreative, künstlerische Seite wiederentdeckt. Ich produziere Musik, lege auf und fotografiere.

 

Ja, ohne die Coronakrise wäre es zu alledem in dieser befreienden Klarheit nicht gekommen. Noch bin ich in der Pflege tätig. Aber wer weiß? Vielleicht ereignet sich parallel zur körperlichen auch eine berufliche Verwandlung. Plötzlich scheint vieles möglich.

 

14.10.2021

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Leo (56) ist Fachpflegekraft und der Lockdown hat dazu geführt, dass sie ihr bisheriges Dasein gründlich auf den Kopf stellte.

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