Jochen
STILL GESTANDEN
Ich bin eher der ‚Glas-ist-halb-leer-Typ‘. Kein Wunder also, dass ich sofort in den Krisenmodus wechselte, als mich Anfang 2020 der Anruf eines Kunden erreichte, der wegen Covid-19 ein Projekt absagte. So war auch ich es, der den noch zögerlichen Kollegen die Notwendigkeit darlegte, sofort einen Notfallplan zu entwickeln.
Wir sind eine Event-Produktionsfirma mit 180 festen und zahlreichen freien Mitarbeitenden, zu deren Management Board ich gehöre. Von der David Guetta World Tour bis zum G20-Gipfel in Hamburg konzipieren, planen und realisieren wir große Veranstaltungen aller Art. Jetzt aber hatten wir innerhalb von wenigen Wochen keinen einzigen Auftrag mehr! Und um uns herum uns kollabierte die komplette Branche - vom Bühnenbauer bis zur Cateringcrew.
Um den Schaden möglichst klein zu halten, konzentrierten wir uns erst mal darauf, an das Geld für bereits geleistete Arbeit zu kommen. Nicht immer war die Rechtslage klar. Wir versuchten aber, uns mit allen Auftraggebern fair zu einigen, da diese ja ebenfalls in die Vollbremsung gezwungen worden waren.
Dann standen wir vor der Was-nun-Frage. Fieberhaft haben wir nach neuen Geschäftsideen in unseren drei Zielmärkten gesucht, haben sogar über die Unterstützung beim Bau von Krankenhäusern nachgedacht. Fest stand, dass in der Entertainment-Branche nichts mehr ging, alle Tourneen und Konzerte waren abgesagt. Die meisten Industrieunternehmen waren noch nicht so weit, digitale Messen oder Events durchzuführen. Blieb unsere dritte Säule, die Politik. Hier war das Glück auf unserer Seite: zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 waren wir mit der Durchführung von Veranstaltungen beauftragt. Diese mussten nun im digitalen Raum stattfinden, wofür wir im Bundesinnenministerium ein professionelles Studio für Online-Videokonferenzen einrichteten. Trotz einiger Anlaufschwierigkeiten und Unwägbarkeiten stand innerhalb kürzester Zeit alles bereit. Eine Woche später folgten Aufträge aus fast allen Bundesministerien und dem Kanzleramt.
So blieb zumindest einem Teil unserer Belegschaft der Weg in die Kurzarbeit erspart, vorausgesetzt, sie waren bereit, temporär nach Berlin zu übersiedeln. Denn dort mieteten wir kurzerhand ein komplettes Hotel und schickten 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Westfalen in die Hauptstadt. Fast zwei Jahre lang wohnten, kochten und arbeiteten wir hier unter Pandemie-Bedingungen. Nach Ministerien getrennt trafen die einzelnen Teams so wenig wie möglich aufeinander. Die Stadt wurde nur für Urlaube oder Familienfeiern verlassen.
Bis heute betreiben wir einige der damals installierten Berliner Studios und konnten mit diesem Knowhow aktiv die Events der Industrie- und Entertainment-Kunden digitalisieren. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, diese personell zu stemmen. Denn viele Mitarbeitende und Freelancer haben das Vertrauen in die Branche verloren. Sie haben sich umschulen lassen, wurden Zugführer, Krankenwagenfahrer oder fanden andere krisensichere Beschäftigungen.
Die Situation bleibt schwierig. Mit Auflagen und Einschränkungen müssen wir weiterhin rechnen, mit Manpower-Problemen ebenfalls. Zwar haben wir Mechanismen entwickelt, um nicht auf staatliche Hilfen angewiesen zu sein. Aber das ist auf Dauer natürlich nicht genug. Wir wollen wieder raus und große Hallen füllen mit Tausenden von begeisterten Zuschauern. Das ist der Kick an unserem Job. Dafür brennen wir.
16. Dezember 2021

Jochen (46) leitet den Bereich Vertrieb und Umsetzung bei der POOLGroup, einem der großen deutschen Player der in Existenznot geratenen Veranstaltungswirtschaft