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Jessica

MITTENDRIN

Der Frühling 2020 wird uns lange in Erinnerung bleiben. Für mich war er in mehrfacher Hinsicht spannend. Im März habe ich mein Referendariat abgeschlossen und bin als Lehrerin für Deutsch und Geschichte ins Berufsleben gestartet. Im selben Monat übernahm ich den Vorsitz der Bonner SPD, womit auch mein politisches Engagement weiter an Fahrt gewann. Und dann war da noch Corona.

 

Der Schuldienst in Zeiten der Pandemie war eine sehr große Herausforderung. Ich konnte live und intensiv erleben, was die Einschränkungen durch Lockdown, Abstandsregeln und Wechselunterricht mit den Schüler:innen machten. Denn ich habe nach dem Examen erst in einer Realschule mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet, die häufig in beengten Wohnverhältnissen leben, von ihrem Elternhaus wenig Unterstützung bei der Strukturierung ihres Tages erhalten und nicht über die fürs Homeschooling notwendige digitale Ausstattung verfügen.

 

Meine Aufgabe als Lehrerin ist es, eine Beziehung zu jungen Menschen aufzubauen  und ihnen den Raum zu geben, ihre Kreativität und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Doch plötzlich erreichte ich sie kaum noch, obwohl es gerade jetzt so wichtig gewesen wäre, sie zu ermutigen, zu schützen und ihnen zu erklären, was um sie herum passiert. Aus heutiger Sicht war es ein Riesenfehler, die Schulen zu schließen, anstatt zuerst alles andere dicht zu machen. Es wird harte Arbeit sein, das wiedergutzumachen. Der Lockdown hat die sozialen Unterschiede innerhalb unserer Gesellschaft verschärft und mich darin bestärkt, noch entschlossener für Chancengleichheit  an unseren Schulen zu kämpfen. Gerechtigkeit, besonders für Heranwachsende, ist eine meiner großen politischen Leitideen.

 

Bis zum Sommer 2021 arbeitete ich weiter als Lehrerin, obwohl ich inzwischen als Direktkandidatin der SPD für die Bundestagswahl in Bonn nominiert war. Ich bin froh, dass ich bis zum Beginn der heißen Wahlkampfphase meinem Beruf nachgegangen bin. Es erdet, nicht nur über Tickermeldungen zu erfahren, was in unserem Land passiert. Aber diese Zweigleisigkeit hat mich sehr beansprucht. Ich lebte in zwei Welten, von denen die eine nicht unbedingt Rücksicht auf die andere nimmt. Doch habe ich das Glück, Teil eines superstarken Teams zu sein. 

 

Früh war klar, dass wir im Wahlkampf den persönlichen Kontakt zu den Wähler:innen  suchen würden. Natürlich fehlten und fehlen bis heute die Orte und Anlässe des lockeren Zusammenseins, bei denen unkomplizierte Begegnungen möglich sind. Als Lehrerin hatte ich den Vorteil, schon im Juni 2021 vollständig geimpft zu sein. Ab diesem Zeitpunkt sind wir in die Stadtteile gefahren, haben an über 6.000 Türen geklingelt und viele gute Gespräche geführt. Mir ist es wichtig, den Leuten zuzuhören und ihnen in Erinnerung zu rufen, dass sie es sind, die Politik gestalten, die bestimmen, wie und durch wen unser Land regiert wird. Vielen ist das gar nicht bewusst. Auch ich komme aus einer unpolitischen Familie und kenne dieses Ohnmachtsgefühl.

 

Heute bin ich stolze Bundestagsabgeordnete für meine Herzensstadt Bonn und Juso-Bundesvorsitzende und ich wünsche mir, dass nicht nur die Maske bald Geschichte ist. Anstatt in Räumen ohne Publikum in eine Kamera zu sprechen oder Instagram-Stories abzusetzen möchte ich auch gerne wieder in gefüllten Hallen Reden halten und auf dem Marktplatz mit Menschen ins Gespräch kommen. Ich will mittendrin sein. Da, wo ich als Politikerin hingehöre.

7. Februar 2022

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Jessica (29) ist seit Januar 2021 Bundesvorsitzende der Jusos und seit Oktober 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages. Im Dezember 2021 wurde sie in den SPD-Parteivorstand gewählt.

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