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Frédéric

SCHAUT ENDLICH HER!

Die Krise als Chance? Na ja. Erstens war und ist die Pandemie natürlich eine große Belastung. Und zweitens hat sich in meinen Augen nach zwei Jahren die Situation in den Pflegeberufen nicht spürbar verbessert. Schon lange wissen wir um die schwierige Arbeitsrealität überall dort, wo Menschen sich um Menschen kümmern. Aber wirklich sehen möchte das niemand.

 

Ich habe mich im März 2020 sehr schnell in die Isolation begeben. Damals lebte und arbeitete ich als Betreuer in einer Berliner Einrichtung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Trotz der großen Herausforderungen, die Covid-19 mit sich brachte, hatte ich plötzlich Zeit. Und musste von meinem ‚Retreat‘ aus mit ansehen, wie die Bevölkerung betroffen auf ihren Balkonen klatschte. Die merkten gar nicht, dass sie in Wahrheit ihren eigenen Edelmut feierten und dabei aus uns Pflegenden eine Art von Schließer:innen machten, die die Risikogruppen gefälligst abzuschirmen hatten. Die Glorifizierung galt auch vorrangig dem Krankenhaus und der Intensivpflege. Andere Bereiche wie z.B. die stationäre Jugendhilfe oder die Geflüchtetenarbeit kamen überhaupt nicht zur Sprache, obwohl auch hier unglaubliche Herausforderungen zu bewältigen sind.

 

Vielleicht war es der Frust, vielleicht meine journalistische Neugier: Ich telefonierte, um zu hören, wie es den Leuten in den Care-Berufen ging. An ein Buch dachte ich damals noch nicht. Aber als die Geschichten aus meinen Gesprächspartner:innen heraussprudelten, begann ich, die Dialoge aufzuzeichnen. Mir war wichtig, Beschäftigte aus unterschiedlichsten Bereichen zu Wort kommen zu lassen, um ein differenziertes Bild zu malen und einen breiten Dialog anzustoßen.

 

Es gibt so viele große und kleine Stellschrauben, an denen man zur Verbesserung der Situation drehen könnte. In der Pflege selbst, in der Gesellschaft und in der Politik. Ich würde zum Beispiel gerne mal eine:n Gesundheitsminister:in erleben, der oder die sich derart für Pflegende einsetzt, wie es das Innenministerium für Polizist:innen tut. Doch das sehe ich auch in der Ampelkoalition nicht kommen. Schon gar nicht das Eingeständnis, dass die neoliberale Politik der Privatisierung des Gesundheitssektors gescheitert ist.

 

Worauf alle Beteiligten ihr Augenmerk richten sollten, sind die Gepflegten. In unserer Gesellschaft gibt es wenig Raum für Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Von denen halten wir uns lieber fern. Für die meisten ist es ein Problem, sich mit der eigenen Sterblichkeit oder gar Pflegebedürftigkeit auseinanderzusetzen. Daran wird auch Corona nichts ändern.

 

Ich bin hin und wieder gefragt worden, ob ich mir vorstellen könnte, in die Politik zu gehen. Aber das ist nichts für mich. Die zähe Gremienarbeit würde mich zermürben. Ich glaube, man kann politisch sein, ohne in die Politik zu gehen. Deshalb mache ich lieber das, was ich kann: Schreiben und pflegen. Solange ich noch pflegen kann. Ich werde bald vierzig und merke, dass meine Belastbarkeit abnimmt. Zurzeit arbeite ich im häuslichen Bereich als Ganztagesbetreuer einer dementen Person. Nur drei Stunden Schlaf sind da keine Seltenheit. Und familienfreundlich sind Pflegeberufe mit Schichtdienst schon gar nicht. Wenn andere abends nett essen gehen, bist du auf der Arbeit. Übrigens auch, wenn sie dir von den Balkonen herunter applaudieren.

 

05. Januar 2022

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Der Autor und Pfleger Frédéric (39) lässt in seinem Buch Pflegeprotokolle Menschen in unterschiedlichen Care-Berufen zu Wort kommen.

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