Dunja
ATEMLOS
Ende Februar 2020 habe ich ein Schreiben vom Bundesgesundheitsamt erhalten, das mich berechtigte, auch im Falle einer Ausgangssperre das Haus zu verlassen, um meinen Beruf auszuüben. Da wusste ich, dass etwas Großes bevorstand. Zum Glück musste ich diese Sondergenehmigung nie in Anspruch nehmen. Aber was dann kam, habe ich mir damals nicht träumen lassen.
Ich arbeite für ein Unternehmen der Medizin- und Sicherheitstechnik und vertreibe im Großraum Berlin Geräte zur lebenserhaltenden Akutversorgung. Meine Kunden sind Kliniken und große Einkaufsgemeinschaften im Gesundheitssektor, die ihre Geschäfte gewöhnlich nicht übers Knie brechen. Zuvor war ich zwanzig Jahre lang in der Intensivpflege tätig, bin also stresserprobt. Aber die Panik, die jetzt ausbrach, hat mich förmlich mit sich gerissen. Nach den Bildern aus Bergamo und den Berichten aus Heinsberg haben meine Kunden mir die Bude eingerannt. Das Bestellvolumen vervierfachte sich mal eben. Selbst die Bundesregierung hat Beatmungsgeräte in großem Umfang geordert. Mein Telefon läutete nonstop. Die Tage wurden immer länger, an Feierabend war bald nicht mehr zu denken. Manchmal blieb mir kaum noch Zeit zum Durchschnaufen.
Sehr schnell verschärfte sich auch der Umgangston. Unsere Produktionskapazitäten mussten drastisch gesteigert werden, die Lieferzeiten verlängerten sich. Mancher Kunde war nicht bereit zu akzeptieren, dass wir als deutsches Unternehmen Kliniken in aller Welt zu versorgen hatten, nicht nur jene im Inland. Professoren oder Verwaltungsdirektoren vergaßen ihre Kinderstube und verbale Entgleisungen waren keine Seltenheit. Mein Job verlangte jetzt völlig neue Qualitäten: Vertrieb und Akquise rückten in den Hintergrund und ich wurde mehr und mehr zur Beraterin, Seelsorgerin und Krisenmanagerin. Die Sache gewann zusätzlich an Brisanz, als es weltweit zu Lieferverzögerungen kam, weil autokratische Machthaber Rohstoffe und Produkte zurückhielten.
Meine Kolleg:innen und ich haben uns da irgendwie reingefunden. Zumal die Pandemieteams in der Firma uns verlässlich mit validen Informationen versorgten. Vor allem stärkte uns das Gefühl, einer sinnvollen Arbeit nachzugehen und einen Beitrag zur Corona-Bekämpfung zu leisten.
Keiner, wirklich niemand, war auf eine solche Situation vorbereitet. Nicht nur die Bundesregierung, sondern jedes einzelne Krankenhaus war anfangs komplett überfordert. Lange Zeit war nur eingekauft worden, was günstig war. Effizienz bedeutete meist Kosteneffizienz. Die Bevorratung mit Geräten war miserabel, ein Risikomanagement, das seinen Namen verdient, existierte nicht. Ich hoffe, das deutsche Gesundheitswesen hat aus dem Chaos gelernt.
Mein Leben hat sich erst vor wenigen Monaten wieder normalisiert. Nicht nur beruflich bin ich viel unterwegs, auch in meiner Freizeit reise ich gerne und es war hart, mein Büro außer zum Schlafen nicht mehr verlassen zu können. Aber wozu auch? In Berlin herrschte Totenstille.
Vier Mal haben wir eine Reise nach Griechenland verschoben, wo wir in einem Dorf mit 80 Einwohnen ein kleines Ferienhaus besitzen. Diesen Sommer am 1. Juli konnten wir schließlich wieder hin, an dem Tag, an dem in Griechenland der harte Lockdown aufgehoben wurde. Nie werde ich die Menschen am Flughafen vergessen, die bei unserer Ankunft applaudierten. Wir saßen im ersten Flieger, der nach vielen Monaten wieder landen durfte.
30. Oktober 2021

Dunja (54) ist ausgebildete Fachkraft für Anästhesie und Intensivpflege und berät Krankenhausbetriebe bei der Anschaffung lebenserhaltender Medizintechnik.